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I. VRUG
Das VRUG dient der Umsetzung der europäischen Verbandsklagenrichtlinie 2020/1828. Mit der Verabschiedung durch den Bundestag steht das Gesetzt nun unmittelbar vor der Ziellinie. Notwendig ist nur noch die Beteiligung des Bundesrats. Die durch die Richtlinie aufgestellte Umsetzungsfrist vom 25. Juni 2023 konnte Deutschland dennoch nicht halten.Den im November veröffentlichten Referentenentwurf haben wir bereits in Teil 1 behandelt: Die Zukunft der Massenklagen – Entwurf des Umsetzungsgesetzes zur Verbandsklagenrichtlinie geleakt | Fieldfisher. Mit der nun beschlossenen Fassung des Rechtsausschusses (BT-Drucks. 20/7631) sind jedoch mehrere wichtige Änderungen in den Entwurf eingeflossen:
1. Verringerte Hürden für die Klägerseite
Zunächst wurde die Anforderungen an das Einreichen einer Abhilfeklage herabgesetzt. Bisher sollte die klageberechtigte Stelle glaubhaft machen müssen, dass mindestens 50 Verbraucher betroffen sind. Nach dem Entwurf muss nunmehr lediglich noch "nachvollziehbar dargelegt" werden, dass mindestens 50 Verbraucher betroffen sein "können". Verbände müssen danach also nicht mehr tatsächlich 50 Verbraucher identifizieren – oft werden die Betroffenen den Verbänden vor Eintragung und Bekanntmachung nicht bekannt sein. Diese Erleichterung dürfte die Abhilfeklage für Verbände also deutlich zugänglicher machen. Zusätzlich bietet der Entwurf nun die Möglichkeit, eine Klage gegen mehrere Unternehmen zu richten.
Überarbeitet wurde auch eine weitere zentrale Voraussetzung, die Gleichartigkeit der Ansprüche. Diese müssen nun nur noch "im Wesentlichen gleichartig" sein. Nach der Entwurfsbegründung soll den Gerichten damit mehr Spielraum für die Zulassung von Abhilfeklagen geschaffen werden. Maßstab ist demnach, ob eine effektive Prozessführung gewahrt wird und die Bündelung prozessökonomisch sinnvoll bleibt. Praktisch wird dadurch jedoch der ohnehin unbestimmte Begriff der Gleichartigkeit noch weiter aufgeweicht. Bis die Rechtsprechung greifbare Kriterien entwickelt, dürfte dies zu erheblichen Unsicherheiten in der Rechtsanwendung führen.
An anderer Stelle wurden die Voraussetzungen verschärft: Um als "kleines Unternehmen" neben Verbrauchern klageberechtigt zu sein, ist eine Beschäftigtenzahl von weniger als 10 Personen und ein Jahresumsatz von unter 2 Millionen EUR erforderlich (anstelle von zuvor 50 Personen und 10 Millionen Euro).
2. Ablauf
Ein zentraler Streitpunkt war bereits im gesamten Gesetzgebungsprozess die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt sich Verbraucher und kleine Unternehmen einer Abhilfeklage anschließen können sollen (Opt-In). Ein Opt-In ist nach dem neuen Entwurf bis drei Wochen nach Ende der mündlichen Verhandlung möglich. Da ein Urteil jedoch erst frühestens sechs Wochen nach Ende der mündlichen Verhandlung ergehen kann, müssen sich Verbraucher auch weiterhin anmelden, bevor ein Urteil gesprochen wurde. Dieser im Vergleich zur vorherigen Fassung spätere Zeitpunkt stellt die Unternehmen vor Herausforderungen. Für sie wird es schwer das Prozessrisiko im Falle des Unterliegens verlässlich einzuschätzen. Es steht zu befürchten, dass sich Unsicherheiten negativ auf Vergleichsverhandlungen auswirken werden.
Sollte ein Vergleich jedoch von vornherein aussichtslos erscheinen, bietet der Entwurf ein verschlanktes Verfahren. Auf Antrag beider Parteien kann ein "kombiniertes Urteil" ergehen, in dem Abhilfegrund- und Endurteil zusammengefasst werden. In der Zeitspanne zwischen beiden Urteilen erfolgen im Normalfall Vergleichsverhandlungen. Damit sparen sich die Parteien Zeit und das Gericht wird entlastet.
Eine weitere Neuerung findet sich auch im Widerspruchsverfahren, mit dem die Parteien gegen Entscheidungen des Sachwalters vorgehen können. Dieser prüft und entscheidet im Umsetzungsverfahren, ob Verbraucher nach den im Urteil festgelegten Kriterien Anspruch auf Entschädigung haben. Hier kann nun innerhalb von zwei Wochen nach Entscheidung des Sachwalters über den Widerspruch auch eine gerichtliche Überprüfung durch das Prozessgericht beantragt werden. Was zunächst nach einer Ausdehnung des bereits aufwendigen Verfahrens aussieht, hat tatsächlich erhebliche Auswirkungen auf Individualklagen im Anschluss an das Abhilfeverfahren. Denn für diese Verfahren ist eine Geltendmachung von Ansprüchen oder Einwendungen ausgeschlossen, soweit diese bereits im Widerspruchsverfahren hätten geltend gemacht werden können. Auch durch die kurze Frist von zwei Wochen dürfte das Widerspruchsverfahren unter dem Strich eher zu einer Entlastung der Gerichte führen.
3. Prozessfinanzierung
Weitreichende Einschränkungen sieht der Entwurf bei der Drittfinanzierung vor. Hier hatten Prozessfinanzierer bislang unklare Vergütungsregelungen beklagt. Eine Prozessfinanzierung ist nach dem neuen Entwurf vollständig ausgeschlossen, wenn eine Erfolgsbeteiligung von mehr als 10% vereinbart wird. Dieser Anteil liegt dabei deutlich unter den marktüblichen 25-40%, die aktuell bei der Finanzierung von Individualmassenklagen aufgerufen werden. Darüber hinaus sollen die Finanzierungsmittel mit Klageeinreichung offengelegt werden und im Falle einer Drittfinanzierung auch die zu Grunde liegende Finanzierungsvereinbarung. Auch die Entwurfsbegründung lässt aufhorchen, denn sie stellt klar, dass eine Erfüllung der Ansprüche nur gegenüber den angeschlossenen Verbrauchern und kleinen Unternehmern erfolgen kann. Eine Zahlung an den Finanzierer erscheint damit ausgeschlossen. Dieser würde sich danach an jeden einzelnen Verbraucher wenden müssen, um seinen Anteil einzufordern.
4. Einordnung des Entwurfs
Der Entwurf ist in vielen Teilen verbraucherfreundlicher als seine Vorgänger. Damit ist die deutsche Prozesslandschaft einem effektiven Kollektivrechtschutz einen Schritt nähergekommen. Dennoch verbleiben einige Schwachstellen:
- Es ist immer noch nicht klar, wann Ansprüche "im Wesentlichen gleichartig" sind. Für Verbände, die ihre Ressourcen bereits vorprozessual auf vielversprechende Fälle konzentrieren müssen, verbleibt es daher bei den bereits aufgezeigten Rechtsunsicherheiten.
- Aufmerksam machen die Regelungen zur Prozessfinanzierung. Die geringe Erfolgsbeteiligung und der aufwendige Auszahlungsprozess dürfte die Abhilfeklage für Finanzierer unattraktiv machen.
- Für etablierte Klägerkanzleien und Prozessfinanzierer wird das "klassische" Massenklagegeschäft wohl weiterhin das lukrativere Modell bleiben. Ob die Abhilfeklage zu einer spürbaren Reduzierung der Fallzahlen und damit zur Entlastung der Gerichte führt, wird sich vor allem daran entscheiden, wer dem Verbraucher am Ende das attraktivere Angebot macht.
II. Leitentscheidungsverfahren
Am 16. August 2023 hat die Bundesregierung einen Entwurf für ein neues Leitentscheidungsverfahren vorgelegt. Damit soll die in Massenverfahren etablierte Praxis adressiert werden, Revisionen aus strategischen Gründen zurückzunehmen oder durch Vergleich zu beenden, um unvorteilhafte Rechtsprechung zu vermeiden. Für die Praxis der Instanzgerichte bedeutet dies aktuell, dass immer gleiche Rechtsfragen in vielen Einzelprozessen behandelt werden, ohne dass diese einer grundsätzlichen Klärung zugeführt werden. Eine unterschiedliche Bewertung der Instanzgerichte führt außerdem zu einer Fragmentierung der Rechtsprechung und im Ergebnis zu Rechtsunsicherheit.Diesen Konflikten möchte die Bundesregierung mit dem neuen Leitentscheidungsverfahren begegnen:
1. Bestimmung durch Bundesgerichtshof
Wird in einem Massenverfahren, das durch universelle Rechtsfragen verbunden ist, Revision eingelegt, kann der Bundesgerichtshof eines der Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen. Dabei soll nach Maßgabe des Entwurfes ein Verfahren ausgewählt werden, das ein möglichst breites Spektrum an offenen Rechtsfragen behandelt.
2. Leitentscheidung
Wird dieses Verfahren regulär durch Urteil mit inhaltlicher Begründung beendet, ergeben sich keine Besonderheiten. Wird bei diesem Verfahren aber die Revision zurückgenommen oder das Verfahren anderweitig beendet, kann sich der Bundesgerichtshof dennoch zu den behandelten Rechtsfragen äußern – in Form einer Leitentscheidung. Die Leitentscheidung hat dabei zwar keinerlei Bindungswirkung für das zugrundeliegende Revisionsverfahren, kann aber in Zukunft eine wichtige Orientierungshilfe für Instanzgerichte und Öffentlichkeit bieten.
3. Aussetzen von Verfahren vor Instanzgerichten
Sofern die behandelten Rechtsfragen von Relevanz für bereits anhängige Verfahren sind, können diese Verfahren auch bis zum Abschluss des Leitentscheidungsverfahrens ausgesetzt werden. Erforderlich ist dazu jedoch die Zustimmung beider Parteien. Damit Gerichte und Parteien beurteilen können, ob die Leitentscheidung für ihr Verfahren von Bedeutung ist, soll bereits der Beschluss zur Bestimmung als Leitentscheidungsverfahren veröffentlicht werden, einschließlich einer Darstellung von Sachverhalt und Rechtsfragen.
4. Einordnung
In der Entwurfsbegründung geht die Bundesregierung von etwa 25 Leitscheidungen im Jahr aus, die im Durchschnitt jeweils etwa 2000 Einzelklagen betreffen, woraus sich ein Einsparpotential bei Gerichts- und Rechtsanwaltskosten von etwa 20% ergebe. Doch auch die Bundesregierung räumt ein, dass diese Zahlen spekulativ sind. Es ist unklar, in welchem Umfang der Bundesgerichtshof und Prozessbeteiligten von der Leitentscheidung oder der Aussetzung des Verfahrens Gebrauch machen werden und es ist offen, welche Auswirkungen die Möglichkeit eines Leitentscheidungsverfahrens auf Prozessstrategien in Massenverfahren haben wird. Klar ist jedoch, dass sowohl auf Angreifer- als auch auf Verteidigerseite auf die neuen Gegebenheiten reagiert werden wird.