Call-in-Rechte: Eine Befugnis auf dem Scheideweg zwischen flexibler Kontrolle und Rechts(un)sicherheit
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Call-in-Rechte: Eine Befugnis auf dem Scheideweg zwischen flexibler Kontrolle und Rechts(un)sicherheit

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Jahrelang prüfte die Europäische Kommission (Kommission) auf Grundlage einer Generalklausel in der Fusionskontrollverordnung (FKVO) Unternehmenszusammenschlüsse, ohne dass dafür tatsächlich eine Zuständigkeit bestand. Jener Praxis setzte der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun mit seine wegweisenden Urteil in Sachen "Illumina/Grail" ein Ende. Dieser Beitrag stellt die bisherige Unionspraxis unter Berücksichtigung der Illumina-Grail-Entscheidung des EuGH dar, bietet einen Überblick über die nationalen Eingriffsbefugnisse bei Unternehmenszusammenschlüssen sowie die fragmentierte europäische Gemengelage in Bezug auf sogenannte "Call-in"-Befugnisse und ordnet die zu erwartende Entwicklung in einem Ausblick ein.
 

Hintergrund: Grenzen der nationalen Kontrollbefugnis

Die Fusionskontrolle ist integraler Teil des nationalen wie europäischen Kartellrechts: Überschreitet ein Zusammenschluss bestimmte (vornehmlich) Umsatz- oder (auf nationaler Ebene) Transaktionsschwellenwerte, wird eine Anmeldepflicht bei der zuständigen nationalen Wettbewerbsbehörde (bzw. der Kommission) ausgelöst. Diese beurteilt daraufhin die wettbewerblichen Auswirkungen des Zusammenschlusses. Für Deutschland hat das Bundeskartellamt erst kürzlich im Jahresrückblick 2024 verlautbaren lassen, dass die Transaktionswertschwelle – trotz einer relativ hohen Schwelle von EUR 400 Mio. – durchaus an Bedeutung gewonnen habe, zumindest, um sog. "Killer-Acquisitions" einer wettbewerbsrechtlichen Prüfung unterziehen zu können.

Dynamische gesamtwirtschaftliche Entwicklungen – insbesondere in der besonders transformativen Digitalbranche – führen dabei immer wieder zu tiefgreifenden wettbewerblichen Bedenken auch in Bezug auf Zusammenschlüsse, bei denen die beteiligten Unternehmen die relevanten Umsatzschwellen nicht erreichen oder bei denen das Transaktionsvolumen zu niedrig für ein Aufgreifen durch die nationalen Wettbewerbsbehörden ist. In solchen Fällen stoßen die Eingriffsbefugnisse nationaler Wettbewerbsbehörden mit rein schwellenwertorientierten Kontrollbefugnissen an ihre Grenze. Schwer zu bewerten sind zumeist Unternehmenskäufe von noch umsatzschwächeren Start-Ups durch größere Wettbewerber. Das Wettbewerbspotential von noch jungen Unternehmen kann im Zeitpunkt des Erwerbs häufig noch nicht in konkreten Zahlen ausgedrückt werden.

Um diese Lücke zu schließen, nehmen sog. Call-in-Rechte zur flexibleren Kontrollmöglichkeit eine immer relevantere Rolle ein. Gemeint sind Rechte einer Wettbewerbsbehörde, etwaige Zusammenschlüsse auch unterhalb von Schwellenwerten prüfen zu können und die beteiligten Unternehmen zu einer Anmeldung zu verpflichten.
 

Bisherige Kommissionspraxis: Der "zuständigkeitslose" Call-in

Die Kommission sah sich bis zuletzt in der Lage, Call-in-Befugnisse abgeleitet von entsprechenden nationalen Befugnissen ausüben zu dürfen. Als Begründung ihrer von 2021 bis 2024 gelebten Praxis zog die Kommission eine weite Auslegung des Art. 22 FKVO heran: Hiernach kann die Kommission auf Antrag eines oder mehrerer Mitgliedstaaten jeden Zusammenschluss im Sinne von Art. 3 FKVO prüfen, der keine gemeinschaftsweite Bedeutung im Sinne von Art. 1 FKVO hat, aber dennoch droht den Handel zwischen Mitgliedstaaten bzw. den Wettbewerb im Hoheitsgebiet des antragstellenden Mitgliedstaates erheblich zu beeinträchtigen. Motiviert durch den Eindruck, dass vergangene bedeutungsvolle Zusammenschlüsse sich durch ermangelnde Überschreitung der Schwellenwerte dem Einwirkungsbereich der Kommission entziehen konnten, nutzte die Kommission den weiten Wortlaut der Vorschrift und akzeptierte ausdrücklich auch Verweisungsanträge in Bezug auf Zusammenschlussvorhaben, für die beim erstverweisenden Mitgliedstaat eigentlich keine genuine nationale Zuständigkeit bestand. Oder in einfachen Worten: Die Kommission war jahrelang der Auffassung, sie könne trotz fehlender eigener Zuständigkeit und trotz fehlender nationaler Zuständigkeit dennoch unter dem Deckmantel des Art. 22 FKVO über Zusammenschlussvorhaben entscheiden.

Im Lichte dessen hat die Kommission in den vergangenen drei Jahren nach eigenen Aussagen 100 solcher Fälle geprüft, aber nur in drei Fällen eine Verweisung überhaupt angenommen. Einer dieser Fälle war die Übernahme des Krebsfrüherkennungstest-Herstellers Grail durch Illumina. Das Zielunternehmen generierte zu diesem Zeitpunkt noch keinen Umsatz und fiel damit nicht unter die Schwellenwerte der verweisenden Mitgliedstaaten. Dennoch prüfte und untersagte die Kommission den Zusammenschluss und verhängte zudem wegen Verstoßes gegen das Vollzugsverbot ein Rekordbußgeld in Höhe von EUR 432 Mio. Daneben ordnete die Kommission auch die Rückgängigmachung des Zusammenschlusses an.
 

Die Illumina-Entscheidung des EuGH und die Reaktion der Kommission

Der EuGH unterband mit Urteil aus September 2024 diese Praxis unter Verweis auf ein irriges Verständnis der Kommission bezüglich des Art. 22 FKVO: Dem Gerichtshof zufolge könnten nämlich nur noch solche Fälle an die Kommission verwiesen werden, für die der verweisende Staat auch tatsächlich selbst zuständig ist.

In Reaktion auf das Urteil äußerte sich die Wettbewerbskommissarin a. D. Margarethe Vestager, dass die europäische Wettbewerbshüterin die bisherige Kommissionspraxis fortführen wolle und unterstrich den fortwährenden Willen, niederschwellige Transaktionen weiter im Auge zu behalten. Man müsse "in der Lage sein, den einen Fisch im Teich zu finden, der problematisch sein könnte, und ihn auf eine Weise zu fangen, die dem Problem angemessen ist."

In Anbetracht der vom EuGH gekippten Praxis im Lichte des Art. 22 FKVO ist der Kommission der bisherige Weg zu diesem Ziel aber verwehrt. Was bleibt ist daher die Motivation der Kommission, andere Wege zur flächendeckenden Überprüfung (vermeintlich) wettbewerbssensibler Transaktionen zu beschreiten. Insbesondere zwei Möglichkeiten dürften nach Ansicht der Kommission hierfür in Betracht kommen:

  1. Zum einen könne man eine Abänderung der Fusionskontrollvorschriften samt der Einführung eines "safeguard mechanism" forcieren, durch die auch Transaktionen dem Einwirkungsbereich der unionalen Wettbewerbshüterin zugeführt werden können, die die bisherigen Aufgreifschwellen nicht überschreiten.
  2. Zum anderen könne man in Betracht ziehen, sich auf eine Ausweitung der Zuständigkeitsbereiche von nationalen Wettbewerbsbehörden zu verlassen und damit mehr Verweisungen nach dem traditionellen Ansatz von Art. 22 FKVO zu ermöglichen; also der Verweisung einer Fusionskontrolle an die Kommission durch einen zuständigen Mitgliedstaat.

Gerade Weg Nummer zwei passt zu der aktuell zu beobachtenden gesamteuropäischen Gesetzgebungsentwicklung. So gibt es inzwischen mehrere Mitgliedstaaten, welche Call-in-Befugnisse in ihr regulatorisches Repertoire aufgenommen haben – Tendenz steigend. Die jeweiligen Rechte in den einzelnen Mitgliedstaaten sind jedoch meist unterschiedlich ausgestaltet, was eine Fragmentierung der Rechtslage und folglich Rechtsunsicherheiten befürchten lässt.
 

Call-in-Befugnisse im europäischen Vergleich

Aktuell sind in der EU vereinfacht drei verschiedene Handhabungen mit Call-in-Rechten zu unterscheiden:

Zum einen wird die Eingriffsbefugnis an einen Mindestumsatz der beteiligten Unternehmen gekoppelt, welcher zahlenmäßig hinter den generellen Aufgreifschwellen des klassischen Regulierungswerkzeugkastens zurückbleibt. Eine solche Voraussetzung verlangen Dänemark, Italien, Schweden und Ungarn. Im Detail variiert der jeweils vorausgesetzte Umsatz aber enorm: So steht Italien an der Spitze, indem es zum Teil – neben anderen Möglichkeiten – einen gemeinsamen Inlandsumsatz der beteiligten Unternehmen von mehr als EUR 567 Mio. voraussetzt. Andere Mitgliedstaaten ziehen die Grenze weitaus niedriger: Während die Mindestumsatzschwelle in Schweden bei rund EUR 87 Mio. liegt, zieht Ungarn die Grenze schon bei EUR 12 Mio. In Dänemark liegt der vorausgesetzte Mindestumsatz gar bei nur EUR 7 Mio.

Auf der anderen Seite stellen diverse Mitgliedstaaten die Befugnis unter die Voraussetzung eines bestimmten Marktanteils der Zusammenschlussbeteiligten. Auch insoweit divergiert der jeweilige nationale Maßstab nicht unerheblich: Slowenien verlangt konkret einen kumulierten Marktanteil der Zusammenschlussbeteiligten von 60% und stellt keine weiteren Voraussetzungen daneben auf. Daneben reicht in Lettland ein gemeinsamer Marktanteil von 40%, wobei die Eingriffsbefugnis des lettischen Wettbewerbshüters zusätzlich an die Bedingung eines Anfangsverdachts hinsichtlich einer Wettbewerbsbeschränkung geknüpft ist.

Schließlich legen andere Mitgliedstaaten einen noch großzügigeren Eingriffsmaßstab an und legen die Prüfungsentscheidung zum Teil noch weiter in die Hände der nationalen Wettbewerbshüter. In Litauen bestehen Call-in-Rechte bereits dann, wenn die Schaffung oder Stärkung einer marktbeherrschenden Stellung oder eine erhebliche Wettbewerbseinschränkung auf einem relevanten nationalen Markt droht. Auch Irland geht in eine ähnliche Richtung und lässt die Möglichkeit genügen, dass die Transaktion Auswirkungen auf den nationalen Wettbewerb haben kann. Schließlich verlangt Zypern einen Zusammenschluss von "großer Bedeutung". Eine solche Einordnung setzt aber noch vor einem Handeln der zyprischen Wettbewerbsbehörde einen ministerialen Erlass voraus.
 

Ausblick

Der Trend zu weitergehenden Eingriffsbefugnissen ist unverkennbar und es ist unwahrscheinlich, dass dieser in naher Zukunft abreißt. So traten die italienischen Call-in-Befugnisse erst im Jahr 2022 in Kraft, die irischen folgten 2023. Auch in anderen Mitgliedstaaten wie den Niederlanden, Belgien und Griechenland sind vergleichbare wettbewerbspolitischen Vorhaben erkennbar. Gleichzeitig dürfte wohl vorerst kein einheitlicher und rechtssicherer Weg eingeschlagen werden können. Eine grundlegende Reform der FKVO, die Einheitlichkeit und Vorhersehbarkeit bringen könnte, stünde allerdings vor der erheblichen Hürde einer notwendigen Einstimmigkeit im Rat der EU.

Aus Unternehmersicht ist diese aktuelle Rechtslage unbefriedigend: Angesichts des europäischen Flickenteppichs an unterschiedlichen Call-in-Befugnissen ist eine individuelle Beurteilung mit den zum Teil sehr weiten und unterschiedlichen nationalen Befugnissen unumgänglich. Währenddessen schwelt die Ankündigung der Kommission im Hintergrund, über Fusionen nun mehr rechtskonform unter dem Mantel des Art. 22 FKVO entscheiden zu dürfen.
 

Weiterführende Links

EuGH-Urteil vom 03.09.2024 – C-611/22 P / C-625/22 P: "Illumina/Grail"

Stellungnahme der Wettbewerbskommissarin a. D. Vestager zum EuGH-Urteil in Sachen Illumina/Gail vom 03.09.2024

Rede von Wettbewerbskommissarin a. D. Vestager auf der 28. jährlichen Wettbewerbskonferenz der International Bar Association vom 06.09.2024

Pressemitteilung der Kommission vom 12.07.2023 zur Geldbuße in Sachen Illumina/Grail