Richtervorbehalt für den Zugriff auf geschäftliche E-Mail-Korrespondenz zur Ermittlung von Wettbewerbsverstößen nach europäischem Recht?
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Richtervorbehalt für den Zugriff auf geschäftliche E-Mail-Korrespondenz zur Ermittlung von Wettbewerbsverstößen nach europäischem Recht?

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I. Einleitung

Geschäftlicher E-Mailverkehr kann im Rahmen der Ermittlung von Wettbewerbsverstößen als Beweismittel von besonderer Relevanz sein. Welche formellen Anforderungen für den Zugriff auf geschäftliche E-Mailkorrespondenz im Einklang mit dem Europäischen Recht einzuhalten sind, liegt nun dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Entscheidung vor. Am 23. Oktober 2025 veröffentlichte die Generalanwältin Medina zu dieser Frage eine ergänzende Stellungnahme.

Ausgangspunkt ist ein Vorabentscheidungsersuchen des portugiesischen Tribunals da Concorrência, Regulação e Supervisão (Gericht für Wettbewerb, Regulierung und Aufsicht). Das Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob eine nationalgesetzliche Regelung, die die Anordnung der Beschlagnahme von geschäftlicher E-Mail-Korrespondenz durch die Staatsanwaltschaft zulässt, mit dem Recht auf Achtung der Privatsphäre nach Art. 7 Grundrechte-Charta vereinbar ist. Anlass war die Argumentation der in dem Verfahren durchsuchten Unternehmen, die vortrugen, hierfür sei die vorherige richterliche Anordnung erforderlich, wenn durch diese Maßnahmen (auch) personenbezogene Daten erhoben würden.

Kernfragen sind demnach die Vereinbarkeit der staatsanwaltschaftlichen Anordnung mit dem in Art. 7 der EU-Grundrechtecharta garantierten Recht auf Achtung der privaten Kommunikation und dem in Art. 8 der EU-Grundrechtecharta verankerten Recht auf den Schutz personenbezogener Daten.

Nachdem Generalanwältin Medina bereits 2024 ihre Schlussanträge in diesem Verfahren vorgelegt hatte, ersuchte der EuGH sie nach dem Urteil in der Rechtssache Landeck (EuGH, Urt. v. 04.10.2024, C‑548/21, ECLI:EU:C:2024:830) um eine ergänzende Stellungnahme. Hintergrund war die Frage, ob die im Landeck-Urteil getroffenen Feststellungen zur Zulässigkeit des Zugriffs auf Daten, die auf einem Mobiltelefon im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gespeichert sind, bei der Beantwortung der Vorlagefrage berücksichtigt werden müssen.

II. Sachverhalt

In dem Verfahren des vorlegenden Gerichts führte die portugiesische Wettbewerbsbehörde Autoridade da Concorrência zwischen Januar 2021 und März 2022 Durchsuchungen bei mehreren Unternehmen durch. Anlass war der Verdacht auf Verstöße gegen nationales und europäisches Wettbewerbsrecht. Dabei beschlagnahmte sie unter anderem E-Mails, ohne richterliche Genehmigung, lediglich durch Anordnung der Staatsanwaltschaft. Diese Vorgehensweise ist nach Art. 21 des portugiesischen Wettbewerbsgesetzes grundsätzlich zulässig. Die betroffenen Unternehmen argumentierten jedoch, dass angesichts des Schutzes von Art. 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta ein höheres Schutzniveau erforderlich sei, das nur durch die richterliche Prüfung im Vorwege sichergestellt sei.

III. Stellungnahme der Generalanwältin

Die Generalanwältin hat in ihrer nunmehr veröffentlichten ergänzenden Stellungnahme klargestellt, dass es nach Europäischem Recht nicht zwingend der vorherigen richterlichen Genehmigung für die Durchführung von Untersuchungsmaßnahmen (so die Bezeichnung von Ermittlungsmaßnahmen im europäischen Recht) bedürfe. Im Übrigen verwies sie auf die Feststellungen ihrer Schlussanträge vom 20. Juni 2024.

1.  Schlussanträge vom 20. Juni 2024

Nach den Feststellungen der Schlussanträge vom 20. Juni gelten E-Mails als „Kommunikation“ im Sinne von Art. 7 der EU-Grundrechtecharta. Das gilt unabhängig davon, ob sie gelesen, ungelesen, gelöscht oder empfangen wurden, ob sie von Geschäftsräumen oder über ein geschäftliches E-Mail-System versendet wurden, und unabhängig davon, ob Absender oder Empfänger juristische Personen sind oder ob der Inhalt privat ist.

Die Beschlagnahme solcher E-Mails ist nach Art. 52 der EU-Grundrechtecharta nur zulässig, wenn sie nationalgesetzlich geregelt und verhältnismäßig ist.

Die Richtlinie (EU) 2019/1 lässt Spielraum für nationale Regelungen, solange diese die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen. Soweit ein Mitgliedstaat ein höheres Schutzniveau als es in den EU-Grundrechten vorgesehen ist, garantiert, muss sichergestellt sein, dass das EU-Wettbewerbsrecht weiterhin wirksam angewendet und durchgesetzt werden kann. Gerichte müssen im Zweifel Wege finden, um die Effektivität des EU-Wettbewerbsrechts zu sichern, etwa durch nachträgliche Kontrolle oder Nichtanwendung nationaler Regeln, wenn ansonsten die Verfolgung des Wettbewerbsverstoßes gefährdet ist.

2. Feststellungen der Stellungnahme vom 23. Oktober 2025

Die Generalanwältin bezieht sich in ihrer ergänzenden Stellungnahme zur Beantwortung der Vorlagefrage gemäß dem Ersuchen des EuGH auf das Urteil in der Rechtssache Landeck (EuGH, Urt. v. 04.10.2024, C-548/21, ECLI:EU:C:2024:830) und prüft, ob die Feststellungen dieses Urteils mit Blick auf den Schutz personenbezogener Daten und die Achtung der Privatsphäre dazu führen, dass die Beschlagnahme von geschäftlichen E-Mails durch einen Richter hätte angeordnet werden müssen.

Aus dem Landeck-Urteil schlussfolgert die Generalanwältin, dass nur die unbegrenzte Erhebung oder der allgemeine Zugang der Behörden zu den in E-Mails enthaltenen Daten ohne spezifische Garantien gegen eine unrechtmäßige Verarbeitung den Kern des Grundrechts auf Schutz personenbezogener Daten beeinträchtigen kann. Im Rahmen einer Untersuchung zur Aufdeckung von Wettbewerbsverstößen sei die Datenerhebung und Verwendung hingegen durch den Gegenstand der Untersuchung begrenzt.

Sie erörtert weiter, dass sich die Maßnahmen in dem Fall, den das portugiesische Gericht zu entscheiden hatte, anders als in der Rechtssache Landeck nicht gegen eine natürliche Person, sondern gegen Unternehmen richteten. Aus diesem Grund seien die Feststellungen nicht uneingeschränkt übertragbar. Jedoch sei die Beschlagnahme geschäftlicher E-Mail-Kommunikation innerhalb eines Unternehmens, verglichen mit dem Zugriff auf ein privates Mobiltelefon, wie in der Rechtssache Landeck, ein weniger intensiver Eingriff in die benannten Schutzrechte.

Die Generalanwältin kommt zu dem Schluss, dass durch Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre die Beschlagnahme von geschäftlichen E-Mails nach dem Unionsrecht nicht per se richterlich angeordnet werden muss. Die Notwendigkeit könne bestehen, wenn die beschlagnahmten Unterlagen nicht nur zum Nachweis eines Wettbewerbsverstoßes, sondern, wie in der Rechtssache Landeck, auch zum Nachweis der strafrechtlichen Verantwortlichkeit einer natürlichen Person verwendet würden. Soweit daher nationalgesetzliche Regelungen die Beschlagnahme von geschäftlichen E-Mails ohne richterliche Anordnung zuließen, sei dies mit dem Unionsrecht vereinbar, sofern der Befugnisrahmen der anordnenden Behörde klar definiert sei und angemessene Garantien bestünden, die Missbrauch und Willkür vorbeugen, insbesondere die Möglichkeit, die betreffenden Maßnahmen während des Verfahrens und im Anschluss daran gerichtlich prüfen zu lassen.

IV. Bedeutung für das deutsche Wettbewerbsrecht

Aus der Stellungnahme der Generalanwältin mit Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH folgt, dass nationalgesetzliche Regelungen, die die Anordnung von Maßnahmen zur Aufdeckung von Wettbewerbsverstößen für Behörden ohne richterliche Genehmigung ermöglichen, zulässig sein können. Voraussetzung ist, dass das nationale Recht klar definiert, in welchen Fällen die zuständige Behörde diese Kompetenz hat und eine gerichtliche Überprüfung während und im Anschluss an das Verfahren gegeben ist.

Im deutschen Recht ist die Kartellbehörde befugt Maßnahmen ohne richterlichen Beschluss zu beauftragen, wenn eine besondere Eilbedürftigkeit („Gefahr im Verzug“) vorliegt. Folgt der EuGH den Ausführungen der Generalanwältin, stellt sich die Frage, ob dieser nationalgesetzliche Befugnisrahmen den geschilderten Anforderungen genügt. Dafür spricht jedenfalls, dass die Durchführung ohne richterlichen Beschluss den Ausnahmefall darstellt, der durch die Gefahr des Beweisverlusts bei Abwarten einer richterlichen Anordnung gerechtfertigt sein muss und dass eine gerichtliche Kontrolle möglich ist.

Links

Ergänzende Stellungnahme der Generalanwältin vom 23. Oktober 2025 (engl.)

Schlussanträge der Generalanwältin vom 20. Juni 2024

EuGH, Urt. v. 04.10.2024, C-548/21, ECLI:EU:C:2024:830 - Landeck