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Zwischenurteil des OLG München vom 17.09.2024
Die Qualifikation von Forderungen im Insolvenzverfahren ist entscheidend für deren Rang bei der Verteilung der Insolvenzmasse. In der Insolvenz von Gesellschaften kommt es für die Gesellschafter darauf an, ob sie aufgrund ihrer Forderungen gegen die Gesellschaft als Insolvenzgläubiger im Sinne der §§ 38, 39 InsO an der Schlussverteilung teilnehmen oder als Residualberechtigte lediglich an einem (in aller Regel hiernach nicht verbleibendem) Überschuss gemäß § 199 S. 2 InsO beteiligt werden. Im Zuge der Wirecard-Insolvenz wurde die bisher höchstrichterlich nicht entschiedene Frage relevant, ob kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche getäuschter Aktionäre als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO zu qualifizieren sind. Das Oberlandesgericht (OLG) München hat diese Frage im Rahmen eines Zwischenurteils nun bejaht.
Rechtlicher Hintergrund der Entscheidung
Gemäß § 38 InsO dient die Insolvenzmasse zur Befriedigung der persönlichen Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben (Insolvenzgläubiger). Insolvenzgläubiger sind in Unternehmensinsolvenzen insbesondere Arbeitnehmer, Lieferanten und Fremdkapitalgeber, wie beispielsweise Banken, soweit deren Forderungen nicht durch die Verwertung etwaig bestellter Sicherheiten befriedigt werden können. Die Forderungen dieser reinen Drittgläubiger berechtigen zur Teilnahme an der Verteilung der Insolvenzmasse (im Rahmen der Schlussverteilung). In Abgrenzung zu diesem "von Außen kommenden Teil" der Gläubigerschaft stehen in Gesellschaftsinsolvenzen auf der anderen Seite, aus dem schuldnerinternen "Innenbereich" kommend, die Rechte der Gesellschafter, die diesen gerade aufgrund ihrer Rolle als Gesellschafter zustehen. Derartige mitgliedschaftliche Rechte stellen nach allgemeiner Meinung keine Insolvenzforderung dar, sodass beispielsweise die Einlagerückforderung eines Gesellschafters lediglich an der Verteilung eines etwaigen Überschusses bei der Schlussverteilung gemäß § 199 Satz 2 InsO teilnimmt. Ein Gesellschafter ist jedoch dann als Drittgläubiger zu behandeln, wenn ihm unabhängig von seiner Mitgliedschaft aus einem Schuldverhältnis Rechte gegen die Schuldnergesellschaft zustehen. Entsprechende Forderungen stellen grundsätzlich Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO dar, die im Einzelfall mit einem Nachrang gemäß § 39 InsO versehen sind. Zu nachrangigen Insolvenzforderungen zählen gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO insbesondere sämtliche Forderungen auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens.
Die vorstehend umschriebene Qualifikation einer Forderung eines Gesellschafters hat eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Denn eine (nicht-nachrangige) Insolvenzforderung gemäß § 38 InsO hat in der Schlussverteilung zumindest Aussicht auf eine quotale Befriedigung (in der Regel im einstelligen Prozentbereich), während eine gemäß § 39 InsO nachrangige Insolvenzforderung in der Praxis nur äußerst selten berücksichtigt wird und eine rein mitgliedschaftlich begründete Gesellschafterforderung ohnehin nur an einem etwaigen Überschuss nach § 199 S. 2 InsO partizipiert.
Bisher nicht höchstrichterlich entschieden und in der Literatur umstritten ist die Frage, ob kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche getäuschter Aktionäre als Insolvenzforderungen zu qualifizieren sind oder mitgliedschaftliche Ansprüche darstellen, die lediglich in der Überschussverteilung berücksichtigt werden können.
Entscheidung des OLG München im Wirecard-Verfahren
Diese Frage rückte im Zusammenhang mit dem medienwirksamen Insolvenzverfahren über das Vermögen der Wirecard AG (Schuldnerin) in den Fokus, da sich der oben genannten Entscheidung des OLG München entnehmen lässt, dass ca. 50.000 Wirecard-Aktionäre kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche wegen des Aktienerwerbs in einem Volumen von ca. 8,5 Milliarden EUR als Insolvenzforderung gemäß § 38 InsO zur Insolvenztabelle angemeldet haben, wobei insgesamt Gläubigerforderungen im Umfang von ca. 15,4 Milliarden EUR bei einer Insolvenzmasse von aktuell ca. 650 Millionen EUR angemeldet worden seien. Aus dem Zwischenurteil des OLG München ergibt sich weiter, dass angesichts der bestehenden Rechtsungewissheit die Forderungsanmeldung einer Kapitalanlagegesellschaft, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens Aktien an der Schuldnerin auf dem Sekundärmarkt erworben hatte, als "Pilotverfahren" vorgezogen vom Insolvenzverwalter geprüft und bestritten wurde. Ein Prüfungstermin für die kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche der übrigen Aktionäre sei vor diesem Hintergrund bislang in dem Insolvenzverfahren noch nicht angesetzt worden.
Auf die sodann erhobene Feststellungsklage der Kapitalanlagegesellschaft lehnte das Landgericht (LG) München I in der ersten Instanz mit einer ausführlichen Begründung eine Qualifikation der geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche als Insolvenzforderungen ab, insbesondere da die Klägerin sich im Rahmen ihrer Kaufentscheidung für eine mitgliedschaftliche Beteiligung an der Schuldnerin entschieden haben und sich hinsichtlich des insolvenzrechtlichen Nachrangs ein Risiko verwirklicht habe, das die Klägerin mit ihrer bewussten Investition in Eigenkapital und den damit verbundenen Chancen auf eine Gewinnbeteiligung übernommen habe (LG München I, Endurteil v. 23.11.2023, Az. 29 O 7754/21).
In der zweiten Instanz qualifizierte das OLG München im Rahmen eines Zwischenurteils die geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche hingegen nunmehr als Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO, da diese nicht als Ausfluss der Mitgliedschaft der Klägerin anzusehen, sondern als Drittgläubigerrechte zu behandeln seien. Das OLG München nimmt hierfür Bezug auf Entscheidungen des BGH und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen getäuschter Aktionäre gegen eine solvente Gesellschaft und überträgt diese auf die Insolvenzsituation. Es bestehe zwischen den kapitalmarktrechtlichen Ansprüchen getäuschter Aktionäre und ihrer Aktionärsstellung kein zwingender Zusammenhang, sondern der Schaden liege jedenfalls hinsichtlich möglicher Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2, 826, 31 BGB vielmehr bereits in der sittenwidrigen Herbeiführung und dem Abschluss des so nicht gewollten Vertrags und sei somit dem Erwerb der Aktionärsstellung vorgelagert. Diese Beurteilung der "Rangfrage“ gelte auch für die auf §§ 97, 98 WpHG gestützten Schadensersatzansprüche.
Weder der Normzweck des § 199 S. 2 InsO noch einer sonstigen Regelung der InsO streite dafür, die geltend gemachten Schadensersatzansprüche in der Insolvenz abzuwerten oder zu entwerten. Überdies führe die Einordnung kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche in den sog. "Nach-Nachrang" des § 199 S. 2 InsO zu Ungereimtheiten und Wertungswidersprüchen.
Im Übrigen scheide auch eine analoge Anwendung des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO auf diese Ansprüche aus, da der Aktienerwerb auf dem Sekundärmarkt keine Finanzierungswirkung für die Gesellschaft habe. Mit diesem Zwischenurteil über die "Vorfrage" der Qualifikation der angemeldeten Forderungen ist jedoch keine Entscheidung über Grund und Höhe der angemeldeten Schadensersatzforderungen verbunden.
Laut Medienberichten hat der Insolvenzverwalter bereits angekündigt, das Zwischenurteil im Wege der Revision durch den Bundesgerichtshof (BGH) überprüfen zu lassen.
Rechtliche Bewertung und Folgen für die Praxis
Das OLG München hat mit einer ausführlichen Begründung und unter Rekurs auf Entscheidungen des BGH und des EuGH die geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche als Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO qualifiziert. Die neuralgische Rangfrage beruht vorliegend nicht nur auf der Schnittstelle von Insolvenzrecht, Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht, sondern hat wegen des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes auch eine europarechtliche Komponente. Das OLG München sah keine Notwendigkeit, diese Rechtsfrage dem EuGH vorzulegen, da es annimmt, dass die eigene Auslegung mit dem Unionsrecht sicher im Einklang stehe. Demgemäß bleibt in vielerlei Hinsicht abzuwarten, ob der BGH die Auffassung des OLG München teilen und dessen Zwischenurteil bestätigen wird.
Für die Aktionäre der Wirecard AG und zukünftige Insolvenzverfahren mit ähnlichen Situationen ist es im Sinne der Rechtssicherheit begrüßenswert, dass die dogmatisch anspruchsvolle Frage nunmehr höchstrichterlich für die Praxis geklärt wird, auch wenn mit einer Entscheidung frühestens im nächsten Jahr zu rechnen sein dürfte.