Locations
BGH Urteil vom 22.05.2025 – Az. IX ZR 80/24
Bei Unternehmen in der Krise kommt es häufig – trotz potenzieller Strafbewehrung nach § 266a StGB – zu Zahlungsrückständen gegenüber den Sozialversicherungsträgern (in der Praxis teils als "AOK-Kredit" bezeichnet). Begleicht der spätere Insolvenzschuldner vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens solche offenen Forderungen, um andernfalls drohende Nachteile zu vermeiden, stellt sich für den Insolvenzverwalter (bzw. den Sachwalter in Eigenverwaltungsverfahren) die Frage, ob solche Zahlungen angefochten werden können, wobei je nach Zeitpunkt der Zahlung unterschiedliche Anfechtungstatbestände in Betracht kommen.
Der Sachverhalt der hier vorgestellten Entscheidung des Bundesgerichtshofs ("BGH") zeichnet sich dadurch aus, dass die spätere Insolvenzschuldnerin die Zahlung ihrer fälligen Sozialversicherungsbeiträge tätigte, nachdem der Sozialversicherungsträger sie mittels eines Bescheids mit dem Betreff "Bitte denken Sie an Ihre Beitragszahlung" und einer Zahlungsfrist zur Zahlung aufforderte und ankündigte, andernfalls die Beiträge im Rahmen der Zwangsvollstreckung einziehen zu lassen. Zudem enthielt dieser Bescheid eine Rechtsmittelbelehrung zum Widerspruch.
I. Rechtlicher Hintergrund der Entscheidung
Gegenstand der Entscheidung ist die Anfechtung der Zahlung an den Sozialversicherungsträger im Wege der sog. Deckungsanfechtung wegen Inkongruenz im kritischen Drei-Monats-Zeitraum des § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO vor der Insolvenzantragstellung. Nach §§ 129 Abs. 1, 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO ist eine gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung anfechtbar, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, wenn die Handlung innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war.
Der BGH knüpft zunächst nahtlos an seine bisherige Rechtsprechung (seit BGH, Urteil vom 09.09.1997 – Az. IX ZR 14/97) zur Anfechtbarkeit von sog. "Druckzahlungen" an, nach der Zahlungen innerhalb des nach § 131 Abs. 1 InsO relevanten Zeitraums wegen Inkongruenz anfechtbar sind, wenn sie vom Schuldner zur Abwendung einer übermittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung geleistet werden. Ein solcher Vollstreckungsdruck ist anzunehmen, wenn der Gläubiger aus der objektivierten Sicht des Schuldners zum Ausdruck gebracht hat, dass er bei Nichterfüllung der Forderung alsbald die Mittel der Zwangsvollstreckung einsetzen werde (BGH, Urteil vom 15.05.2003 – Az. IX ZR 194/02).
Diese Grundsätze sind bereits seit geraumer Zeit in der Rechtsprechung verfestigt und in der Praxis bekannt. Der Schwerpunkt der hier vorgestellten Entscheidung liegt nunmehr in der Präzisierung, bei welchem Verhalten eines öffentlich-rechtlichen Gläubigers aus objektivierter Schuldnersicht von einem hinreichenden Vollstreckungsdruck ausgegangen werden kann. Als geklärt dürfte gelten, dass dies bejaht werden kann, wenn ein öffentlich-rechtlicher Gläubiger in einem Schreiben ausdrücklich die Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen ankündigt (vgl. BGH, Urteil vom 15.05.2003 – Az. IX ZR 194/02; BGH, Urteil vom 17.06.2010 – Az. IX ZR 134/09, Rn. 15), unabhängig davon, ob zur Abwendung von Vollstreckungsmaßnahmen eine konkrete Frist gesetzt wird (BGH, Urteil vom 20.01.2011 – Az. IX ZR 8/10, Rn. 10). Umgekehrt soll eine bloße Rückstandsanzeige bezüglich der vorausgegangenen Monatsbeiträge durch einen Sozialversicherungsträger nicht genügen, um einen ausreichenden Druck einer unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung zu begründen (BGH, Urteil vom 17.06.2010 – Az. IX ZR 134/09, Rn. 8).
Der Sachverhalt der hiesigen Entscheidung liegt insoweit zwischen diesen beiden Polen, als dass zwar einerseits ein Einzug der offenen Beträge im Wege der Zwangsvollstreckung angekündigt wird, andererseits der Bescheid aber insgesamt in einem eher freundlichen und verständnisvollen Ton formuliert war. Letzteres und insbesondere der Betreff des Bescheids, "Bitte denken Sie an Ihre Beitragszahlung" veranlassten das vorinstanzlich befasste OLG Hamburg (OLG Hamburg, Beschluss vom 07.05.2024 – Az. 11 U 13/24) unter ausdrücklicher Berufung auf das Urteil des BGH vom 20. Januar 2011 (Az. IX ZR 8/10) dazu, dass Schreiben als einfache Mahnung einzuordnen, das dem Schuldner nicht hinreichend deutlich die unmittelbar bevorstehende Zwangsvollstreckung vor Augen führe.
II. Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der BGH sah dies in der hier vorgestellten Entscheidung deutlich strenger als die Vorinstanz und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Er stellte klar, dass die Schuldnerin aus ihrer objektivierten Sicht allein schon aufgrund der von dem Sozialversicherungsträger im streitgegenständlichen Bescheid gesetzten Zahlungsfrist verbunden mit der Ankündigung, dass bei Nichtzahlung die Beiträge zwangsweise eingezogen werden müssten, damit rechnen musste, dass eine unmittelbare Zwangsvollstreckung bevorstehe. Daran ändere auch der freundlichere Tonfall im Stile einer ersten Zahlungserinnerung und die Einbettung der Frist und der Vollstreckungsandrohung in einem längeren Text nichts.
Entscheidend sei, dass das Schreiben nicht als ein bloß unverbindlicher Hinweis auf abstrakt mögliche Folgen einer Nichtzahlung verstanden werden konnte, sondern der Text selbst durch die Formulierung "andernfalls" eine unmittelbare Verknüpfung zur andernfalls drohenden Rechtsfolge herstellte. Dass durch den Bescheid eine Drucksituation geschaffen wurde, ergebe sich zudem aus der in ihm enthaltenen Widerspruchsbelehrung, die klarstellte, dass der Widerspruch keine zahlungsaufschiebende Wirkung habe.
III. Rechtliche Bewertung und Folgen für die Praxis
Die Entscheidung des BGH ist im Sinne der Rechtssicherheit zu begrüßen. Andernfalls hätten Sozialversicherungsträger mit eigener Vollstreckungskompetenz, worauf auch der BGH zutreffend hinweist, in der Unternehmenskrise die Möglichkeit durch geschickte Formulierungen "zwischen den Zeilen" einen Vollstreckungsdruck aufzubauen und diesen zum Nachteil der Gläubigergesamtheit auszunutzen. Insoweit belegt die Entscheidung die im Anfechtungsrecht gebotene Gesamtschau aller Umstände.
Für Sozialversicherungsträger, die im Zeitraum von drei Monaten vor der Insolvenzantragstellung noch Zahlungen von dem Schuldner erhalten, erhöht sich durch die Entscheidung das Risiko einer Insolvenzanfechtung solcher Zahlungen, wenn diese unter dem Eindruck eines – wenn auch "freundlich" formulierten – Leistungsbescheids mit Fristsetzung und Vollstreckungsankündigung geleistet worden sind. Umgekehrt werden Insolvenzverwalter und Sachwalter Zahlungen an Sozialversicherungsträger im kritischen Zeitraum zukünftig auch unter Berücksichtigung dieser Entscheidung auf ihre Anfechtbarkeit hin untersuchen.